Das wird ein langer Tag: Heute überqueren wir den Polarkreis. Normalerweise findet das zwischen 7 und 8 Uhr statt, wenn ich mir meine letzten Reiseberichte so anschaue. Zur Polarkreisüberquerung veranstaltet das Schiff immer einen Wettbewerb: Wer den Zeitpunkt am exaktesten schätzt, kann die Postschiffflagge gewinnen. Da das Tagesprogramm nur auf den Monitoren und nicht in gedruckter Form vorliegt, gehen diese Ereignisse allerdings etwas unter, und nur weil Günter sich daran erinnert und die Teilnahmezettel gestern Abend noch organisiert hat, kann unsere Gruppe doch daran teilnehmen. Meine Schätzung war 8:25, da wir doch ganz gut daran sind, beim An- und Ablegen Verspätung einzufahren. Später sehe ich, dass der Point of Interest zwischen 7:30 und 8:30 stattfinden soll – damit bin ich noch im “offiziellen” Zeitfenster… Also klingelt der Wecker schon vor 7 Uhr und gibt mir die Möglichkeit, die prä-arktische Morgendämmerung zu genießen.
Um 7:57:22 passieren wir dann die Insel Vikingen und überqueren den Polarkreis, der in unmittelbarer Nähe der Insel mit der Weltkugel liegt.
Kurz vorher wurde zum Point of Interest auf Deck 9 gerufen. Als die Insel in Sicht kommt, drängen alle an die Backbordreling, sodass ich wieder auf das Umlaufdeck 6 gehe. Da ist doch mehr Platz.
Anschließend noch ein wenig die Landschaft genießen und frühstücken, bevor Ørnes auf dem Programm steht. Das Örtchen mit 1600 Einwohnern liegt malerisch zwischen schneebedeckten Bergen und gilt zurecht als der vielleicht schönste Hafen. Wohnen wollte ich hier trotzdem nicht… In der Nähe ist auch der Svartisen-Gletscher, Norwegens zweitgrößter Gletscher, der in den letzten Jahrzehnten deutlich geschrumpft ist. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob man ihn prinzipiell vom Schiff aus erspähen kann, oder ob die sichtbaren Schneefelder nichts damit zu tun haben.
Kurz nach Ørnes der nächste Point of Interest: Die Polarkreistaufe. Auf Deck 9 gibt es nicht nur den Beweis-Stempel für die Polarkreisüberquerung, sondern das Expeditionsteam tut alles, damit der Gott Njörd kommt und die Zeremonie durchführt. Passenderweise kommt er auf der Trollfjord nicht über das Dach, sondern von den beiden großen Pools auf Deck 9.
Zusammen mit unserer Kapitänin und dem Expeditionsteam gibt Njörd die Gewinnerin des Wettbewerbs bekannt und tauft sie auch gleich als erste, danach kommen alle anderen dran, die wollen.
Ich verzichte, ich habe einmal mitgemacht. Aber ich bleibe dabei, dass das Eis im Nacken im Winter weniger unangenehm ist als im Sommer – schließlich hat es etwa Außentemperatur. Während draußen die Landschaft vorbeizieht, begebe ich mich wieder ins Schiff – ein bisschen was organisieren (gibt es noch einen Platz auf der Fahrt zum Nordkap? Ja, ich habe Glück) und dann um halb zwölf die Reiseleitersprechstunde.
Bodø erreichen wir pünktlich kurz nach 13 Uhr. Die Stadt hat einen großen Flughafen und war ein Zentrum einer NATO-Übung, als ich vor ein paar Jahren hier war; heute sind trotz des Ukraine-Kriegs beruhigenderweise keine Düsenjäger in der Luft. Nur die Küstenwache zeigt Präsenz.
In Bodø ist genug Zeit für eine kleine Runde durch den Ort. Die Busfahrt zum Saltstraumen, einem der stärksten Gezeitenströme der Welt, hätte sich diesmal als Ausflug gelohnt: Die Strömung war stark, und es waren einige Strudel zu sehen. Irgendwann muss ich den Ausflug doch einmal machen, aber bevorzugt mit dem Boot… so ging es einmal durch den wie immer windigen Ort, an den beiden Denkmälern für die Schiffskatastrophen der Hurtigrute vorbei (an die Prinzesse Ragnhild, die hier 1940 nach einer Explosion unterging, erinnert ein Denkmal am Hurtigrutenanleger, und an die Brandkatastrophe auf der Erling Jarl von 1958 erinnert ein Denkmal beim Scandic Hotel) weiter zur alten Gamle Salten, und dann zurück ins Einkaufszentrum und über Kirche, Rathaus und Wandmalereien zurück zum Schiff.
Direkt nach dem Auslaufen stand mein zweiter Vortrag auf dem Programm: Der Sternenhimmel. Derweil ziehen draußen immer mehr Wolken auf, und die Fahrt über den Vestfjord schaukelt zwar nicht zu sehr, aber das Wetter war schon besser.
Um 17:15 besuche ich erstmals das Treffen mit dem Expeditionsteam. Hier gibt es immer wieder interessantes über Land und Leute, und manchmal erfahre auch ich etwas neues über Norwegen. Da es auf die Lofoten geht, steht der Stockfisch im Mittelpunkt. Fesk og potedes, Fisch & Kartoffeln
Kurz vor Stamsund erreichten wir dann ruhigeres Gewässer, aber kein besseres Wetter: Aus Wolken wurden Regenwolken, und die See war überraschend unruhig während unserer Weiterfahrt entlang der Lofoten bis nach Svolvær. Immerhin liegt die große Trollfjord ruhig im Wasser: Als wir gegen 21 Uhr der südgehenden Nordlys begegnen, wird der Seegang an ihr erst richtig deutlich.
In Svolvær haben wir – da das Anlegen mal wieder etwas länger dauert – weniger als eine Stunde Zeit. Die Luft ist gut: Noch hängt kein Stockfisch an den Trockengestellen rund um den Hafen und erfüllt den Ort mit Fischaroma. Die Zeit langt gerade, um die Spikes anzuziehen und zur Kirche zu spazieren: Hinter ihr wurde im Herbst 2020 das “Eye of the North” errichtet. Ein glänzendes Kunstwerk mit Blick auf die Kirche.
Auf dem Rückweg fängt es zu regnen an – ich mache mir eigentlich keine Hoffnung auf den Trollfjord, aber zurück auf dem Schiff kommt dann doch die Durchsage: Es gibt den Point of Interest kurz nach 23 Uhr, und gegen Mitternacht sollen wir an der Mündung des Trollfjord sein – hineinfahren ist im Winter zu gefährlich. Zum POI schaue ich kurz hoch auf Deck: Alle drängen sich unter das Dach auf Deck 9, während der Koch Suppe ausschenkt – ich schaue mir das nur kurz an, bevor ich mich wieder in die Kabine verziehe. Das ist mir gerade zu voll und zu nass. Keine Chance auf Polarlicht im Trollfjord.
Viertel vor Mitternacht gehe ich wieder an Deck, wo mir alle entgegenkommen: Die Trollfjord fährt Bug voraus auf den Fjord zu, die besten Plätze sind diesmal ganz vorne und im Panoramasalon. Bis ich vorne bin, sehe ich gerade noch, wie die Scheinwerfer die Felswände und den strömenden Regen beleuchten, bevor sie abgeschaltet werden – gerade so verpasst. Schade.
Also: Feierabend für heute, es war ohnehin ein langer Tag.